„Irgendwann möchte ich ein Kind. Ich will nur kein Kind anstatt eines Lebens“
Anne gespielt von Anamaria Vartolomei
Audrey Diwans Das Ereignis
© 2022 IFC Films. All rights reserved.
In seiner Wirkung vergleichbar mit dem beklemmenden Horror von Darren Aronofsky, ist die Bildsprache das Gegenstück dazu – visuell ruhig, echt und bisweilen dokumentarisch in seiner Herangehensweise.
Die Kamera ist nah an der Protagonistin Annie (Anamaria Vartolomei) dran. So nah, als ob ein einziger Atemzug unsere Zuschauerschaft verraten könnte. Wir folgen ihr zunächst auf eine Party, wo sie und ihre Freundinnen sich darin üben, in einer sexuell verklemmt vorherrschenden Moralität das Gewagteste aus Ihrer Garderobe herauszuholen.
Während die Kamera dicht bei ihr bleibt, sehen wir die Blicke der anderen Studenten. Männer, die sie verführen wollen, und Frauen, die ihr missbilligende Blicke zuwerfen.
Anne, erfahren wir kurze Zeit später, ist auf dem besten Weg ihren Abschluss mit Auszeichnung in Literatur zu erreichen. Schwanger zu werden wäre der Weltuntergang erzählt einer ihrer Freundinnen ungeahnt, doch genau das passiert nach einer nicht-gezeigten Nacht mit einem Politikstudenten aus dem entfernten Bordeaux.
Durch die unmittelbare Nähe wittern wir, wie sich langsam ein Gefühl der Angst und der Panik ausbreitet und ihre Welt zu zerbröckeln droht. Wiederkehrende Zwischentitel, die das Verstreichen der Zeit zeigen – „2 Wochen“, „12 Wochen“ – gleichen einer Zeitbombe, die zu explodieren droht, wenn nicht bald gehandelt wird. Die andauernde Nähe der Kamera ruft ein räumliches und sinnliches Beklemmen hervor. Die Nähe als kontinuierliches Element lässt uns jeden Atemzug der Angst miterleben.
Es gibt nichts Geschöntes und nichts, was in seinem Schrecken dramatisiert werden müsste. Diwan schafft eine entschieden ehrliche Vision, die im einsamen Moment verankert ist. Darin erfahren wir die Tragweite von Moralvorstellungen, die dogmatisch gelebt und nie hinterfragt werden.
Die Kamera, die Anne wie ein Schatten untrennbar an ihr klebt, drängt sich trotz ihrer Wirkung nicht in den Vordergrund. Die Irritation der Nähe verblasst und die visualität der Form wird zugunsten einer emotionalen Sensibilisierung unsichtbar. Ebenso wie die Form verweigert auch der Ton jede Spur von Sentimentalität.
Die wenigen, kurzen und nahezu zuckenden Klänge sind hier weniger melodisch als der Klang der ein Unheil ankündigt, der auch aus einem Ari Aster-Horrorfilm stammen könnte. Die Helligkeit des Sommers macht den Kontrast zwischen dem Alltäglichen und der inneren Zerrissenheit noch deutlicher.
© 2022 IFC Films. All rights reserved.
„Irgendwann möchte ich ein Kind. Ich will nur kein Kind anstatt eines Lebens“
Anne gespielt von Anamaria Vartolomei
Hierzu trägt auch die schauspielerische Leistung von Anamaria Vartolomei bei, die den Film tragen muss und der dies auch gelingt. Nicht das große Schauspiel von großem Leid findet hier statt, sondern ihr beeindruckendes Schauspiel im Kleinen, das des unterdrückten Leids. Gemeinsam mit den nichts ahnenden Eltern am Tisch sitzend, können sich die Eltern vor Lachen über das Radioprogramm nicht halten. Ihr kurzes Lächeln in Angesicht des Gewichts, was auf ihr lastet und eine Umarmung mit ihrer Mutter, der sie ihr Leid nicht erklären kann, scheint mehr ausdrücken zu können als alle Worte.
Zwei Gedichte, vorgetragen von ihrem Lehrer, werden zur Versprachlichung davon, was diese ungewollte Schwangerschaft bedeutet. Das erste ist das Gedicht Elsa im Spiegel von Louis Aragon, das hinter der Oberfläche eines Liebesgedichts von Frankreich im Krieg spricht. Bald darauf sehen wir Anne, wie sie sich im Spiegel betrachtet. Die Schwangerschaft und das Kind sind kein Symbol der Liebe für sie, sondern ein Krieg gegen ihren eigenen Körper.
Das Gedicht, dass den Film abschließt, ist von Victor Hugo – La Sortie. Vom Lehrer an die gesamte Klasse gerichtet, sehen wir nichts als Annes Gesicht und verspüren zum ersten mal mit ihr ein Gefühl von Verständnis für sie. Aus der persönlichen Not geboren und aus eigennützigen Beweggründen heraus bekämpft, führt die Frage dennoch weiter und vermittelt uns ein Gespür für das Wesen und die tiefe Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Die Stille und Isolation transformiert sich hier zum Wesenskern einer Bewegung.
In der Diskrepanz der Stille liegt die Brillanz von Das Ereignis: die äußere Stille, dadurch, dass niemand von ihrer Schwangerschaft erfahren darf gegenüber dem inneren Krieg in ihr. So auch die Stille der persönlichen Austragung dieses persönlichen Krieges und dem Wunsch nach Hilfe zu schreien. Diwan will keine Antworten auf moralische Fragen geben, sie zeigt nur – schonungslos ehrlich und furchtlos in seiner Thematik.