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Hirokazu Koreedas Still Walking

Eine einfache Familie als Nukleus des Lebens

Still Walking findet seit Jahren in aller Regelmäßigkeit den Weg in mein Blu-ray-Laufwerk und ist mittlerweile mein am häufigsten gesehener Film. Ein Porträt einer Familie, dargestellt an einem einzigen Sommertag, das zugleich ein ganzes Leben reflektiert.

Verfasser

Lonsi

Sep 16, 2022

© trigon-film.org

In diesem folgen wir Ryota, seiner Frau Yukari und dem Sohn Atsushi aus ihrer vergangenen Ehe, die sich auf den Weg zu Ryotas Eltern machen. Anlass dafür ist der Todestag seines Bruders, zu welchem sich die gesamte Familie zusammenfindet.

Trotz seiner Einfachheit, entdeckt man bei jeder Sichtung viele besonderen Details. Koreeda schafft es hier trotz der kulturellen Besonderheiten einen sehr universellen Blick auf die Familie zu werfen. Über den Film hinweg schwebt sowohl Nostalgie als auch ein gesamtperspektivischer Blick von Leben und Tod, von Sehnsüchten und Reue.

Der Film wird zum Großteil aus der Perspektive des Protagonisten gezeigt. Ryota – ein Mann in seinen Vierzigern auf Jobsuche. Er ist der jüngere Sohn, der in dem Tod seines vorbildhaften älteren Bruders neben der Trauer auch immer ein unerreichtes Vorbild vor sich hat – der Sohn, der er nie für seine Eltern sein kann.

Das zeigt sich insbesondere an dem wundervollen und einfach zu unterschätztem Schauspiels von Hiroshi Abe, der mit einer unvergleichlichen Präsenz eine Mittelmäßigkeit verkörpert, die immer wieder Thema des Films ist. Vereinzelte ausgesprochene- und nonverbale Reaktionen, wenn der ältere Bruder in den Himmel gelobt wird zeugen vom Frust, aber zeigen auch, dass der Bruder auch zu einem fantasierten Ideal erhoben wurde, der immer dafür steht was hätte sein können. Seine Eltern spielt er aus Schamgefühl aufgrund seiner Arbeitslosigkeit vor, Restaurateur von alten Gemälden zu sein, insbesondere um gegenüber seinem Vater gut dazustehen.

© trigon-film.org

„Ich interessiere mich weniger für den Tod selbst als für die Menschen, deren Leben davon berührt ist.“

— Hirokazu Koreeda

Eine Momentaufnahme die sich entfaltet

In dem einen Tag, den er abdeckt, zeichnet Koreeda ein akribisches Porträt des Innenlebens einer Familie. Durch seinen Detailreichtum und seine sorgfältige Beobachtung fängt Koreeda den Menschen hinter der Rolle des Vaters, der Mutter und des Sohnes im Film ein. Unaufdringlich und doch prägnant stellt er jedes Familienmitglied als eine andere Lebensphase dar und enthüllt so die zugrunde liegenden, unausgesprochenen Sehnsüchte. Jeder mit seiner Bürde, mit der jeder sein Leben weiter fortschreiten muss. Mit dem jeweiligen Verlust des Bruders, Sohnes und Vaters entsteht ein gemeinsames Bindeglied und eine Kontinuität zwischen den Generationen. Zugleich veranschaulicht Koreeda den Wandel eines Menschen, sobald dieser zum Vater oder zur Mutter wird. Die Beziehung zwischen Ryota und seinem Vater wird dadurch nicht mehr nur die eines Sohnes, die Perspektive verschiebt sich von der eines Vaters zu der eines Vaters.

Der Blick, der hier entsteht, ist dokumentarisch. Er ist bestimmt durch die kaum vorhandenen Kamerabewegungen, die neben dem Familienthema auch Vergleiche mit dem Regiekollegen Yasujiro Ozu aufkommen lassen. Durch die längere Aufnahme einer Szene, selbst nachdem die Figuren aus dem Bild gehen, bekommt der Film eine authentische Räumlichkeit und das Haus selbst eine gewisse, stetig zu vergehende Lebendigkeit.

Eine Szene, die immer wieder aufs Neue hervorsticht, ist ebenso schön wie unscheinbar. Zu Beginn des Films bittet die Tochter ihren Vater, Milch zu kaufen, als er gerade das Haus verlassen will. Ignorierend schließt er die Tür hinter sich. Während sich die Tochter darüber aufregt, schmunzelt die Mutter neben ihr, während beide das Essen zubereiten, nur und sagt, dass er sich trotz seiner Pension immer noch als Herr Doktor sieht, der in der Öffentlichkeit nicht mit einer einfachen Einkaufstüte gesehen werden will.

Diese leisen Andeutungen mit dem leichten Kichern der Mutter verbildlichen eine Weise der Liebe, wie man sie in Filmen so selten sieht. Eine nicht besonders romantische Form der Liebe, und doch ein ehrliches Gefühl der innigen Zugehörigkeit, das allein über ein ganzes Leben hinweg wachsen kann.

Essen und Kochen haben hier eine besondere Bedeutung. In vielen Teilen Asiens ist es ein wesentliches kulturelles Merkmal, dass die Speisen mit allem am Tisch von mehreren Tellern geteilt werden. Das gemeinsame Essen verbindet hier Menschen, die tief voneinander entfremdet sind und sonst wenig verbindet. Damit verbunden sind auch soziale Erwartungen und Normen, die besonders in Japan und in der Generation der Eltern eine große Rolle spielen. Während die Mutter trotzig dazu steht, nur Hausfrau gewesen zu sein, bereitet sie bescheidene bürgerliche Gerichte zu, die einer Arztgattin nicht angemessen erscheinen würden. Dennoch spiegeln ihre einfachen Gerichte ein Gefühl von Zuhause für alle in der Familie wider, wenn allein der Geruch an die besseren Zeiten erinnert, das wehmütige Damals, als wie immer alles schlechter und dennoch besser war.

© trigon-film.org

„die schlichten Gespräche [enthalten] tiefer liegende Anliegen, denen die Figuren nicht direkt Ausdruck verleihen können“

Der Blick für Menschliche Schwächen

Verglichen mit vielen Familiendramen ist Still Walking trotz der zugrunde liegenden Themen weder melodramatisch noch sentimental. Koreeda legt großen Wert darauf, dass die Figuren lebensnah sind. Um dies zu erreichen, ist keine Person wirklich boshaft oder ohne Makel. So ist etwa die Mutter, die von der wunderbaren Kirin Kiki dargestellt wird, eine liebenswerte, kauzige Frau, deren Trauer um ihren Sohn auch eine heimliche dunkle Seite in sich birgt. Keine Figur wird übermäßig sentimental-idealisiert betrachtet, mit Ausnahme des verstorbenen Sohnes, der nie gezeigt wird.

Dennoch hat der Film eine gewisse Leichtigkeit, was auch an der Dialoggestaltung festzumachen ist. Der Zuschauer hat immer gerade genügend Kontext, um den Gesprächen folgen zu können. Damit und durch die Alltäglichkeit der Gespräche wirken sie natürlich und greifbar, auch weil wir sie nie von Anfang an, sondern stets mittendrin erfahren. Auf der anderen Seite enthalten die schlichten Gespräche aber auch tiefer liegende Anliegen, denen die Figuren nicht direkt Ausdruck verleihen können. Etwa wenn der wortkarge Vater kurz aus seinem Stoizismus ausbricht, um seinen Sohn und Enkel zu fragen, warum sie nicht eines Tages gemeinsam ins Fußballstadion gehen sollten, hat es eine bestimmte bittersüße Note, wenn die Antwort des Sohnes nur ein „Sicher, irgendwann einmal …“ ist. Ein Irgendwann, das so leicht entgleitet, aber in dem sich hinterher so viel Bedauern niederschlagen kann.

Eine weitere zentrale Thematik Koreedas, die hier umrissen wird, ist die Frage, welche Bedeutung Blutsverwandtschaft für die Definition von Familie hat. Koreeda widmet sich dieser Frage in seinen späteren Filmen Like Father, Like Son und Shoplifters die ich ebenfalls sehr empfehlen kann.

Die häufigen Vergleiche mit Yasujiro Ozu, vor allem in Bezug auf diesen Film, werden Koreedas eigenen Visionen nicht gerecht. Seine Figuren haben etwas sehr Ungeschliffenes und Authentisches an sich, das ihre selbstsüchtige und unliebsame Seite offenbart, die eine ungemeine reflektive Ehrlichkeit hervorruft.

Still Walking ist ein außergewöhnlich scharfsinniger Film über die Schattierungen der menschlichen Natur. Seine Klasse liegt in der Aufdeckung des Unausgedrückten, in der einfühlsamen Betrachtung von zwischenmenschlichen Beziehungen und in der Kunstfertigkeit, mit der Koreeda all dies auf einfache und alltägliche Art und Weise porträtiert.

Another perspective

Ralf

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